Eckhart Gillen als die Soldaten Schäfer waren

Eröffnungsrede, 6. September 2015 in der Kommunalen Galerie Berlin

„Am 1. September 1939 rief die Mutter den Vater an - er war damals Offizier im Generalstab in Potsdam - und sagte: ‚Es geht los!’ Er darauf: ‚Das weiß ich schon’. Sie sprach von deiner Geburt, er vom Beginn des Zweiten Weltkrieges.“ (FRANEK, S. 27)

Das schreibt FRANEK in ihrem Buch „als die Soldaten Schäfer waren“. Sie wurde buchstäblich in den Krieg hinein geboren. 70 Jahre nach dem Kriegsende fragt sie sich „Hat meine Kindheit etwas mit meiner Kunst zu tun? Warum haben sich in meine Bilder häufig kriegerische Attribute eingeschlichen, wie bewaffneten Mädchen, Kindersoldaten, Kampfflugzeuge, Drohnen. Immer wenn es gerade paradiesisch erscheint, entdeckt man noch irgendwo ein Unheil, das dahinter verborgen ist. Auch in den Kindheitsbildern lauert das Böse.“ Alle diese Bilder sind hintergründige Kommentare zu Deiner Kindheit.

Leben und Werk verbindet sich bei Dir in immer wiederkehrenden Motiven. Du entwickelst Deine eigene Ikonografie von Kindern inmitten einer Welt des Militärs, der Waffen, der Bedrohung durch Flugzeuge und Bomben  ...

Du sagst, Deine „Bilder entstehen in der Erinnerung“. Aber Deine Erinnerungen an die Zeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg sind, wie alle Erinnerungen, „vage, unscharf. Gedächtnisfetzen, fragmentarische Bilder, die, wie in einem schlecht gelagerten schwarz-weiss Film, ineinander verschwimmen“, wie Du schreibst.

An einer anderen Stelle des Buches sprichst Du von Deiner Wunderkammer, so nennst Du diese Bricolagen auf Sperrholz, 15 davon sind 2012 entstanden. Deine Wunderkammer „ist ein Gedächtnisspeicher und eine Recherche in die Vergangenheit“ als Bricolagen auf schwarzem Grund gebannt: MNEMOSYNE“, notierst Du dazu am 16. Oktober 2012.

Was ist und wie funktioniert Erinnerung und wie verhält sie sich zum Gedächtnis?

Die antike Mythologie führt den Ursprung der Künste auf Mnemosyne, die Göttin der Erinnerung zurück. Die Tochter der Gaia (Erde) und des Uranos (Himmel) vermählte sich mit Zeus und gebar die neun Musen. Ihr vielstimmiger Gesang kündet den Künstlern als innere Stimme und Intuition „von Künftigem und von Gewesenem“[2].

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Mit der zunehmenden Übertragung der Funktion des Aufbewahrens und Abbildens von Wissen und Erkenntnis auf die sich ausdifferenzierenden Wissenschaften und Kommunikationsmedien, konnte sich die Kunst der Moderne zunehmend von der Nachahmung, dem Abbilden, der Chronik emanzipieren. Die von der Gedächtnisarbeit befreite Erinnerung wurde für Charles Baudelaire „das große Kriterium der Kunst“, die exakte Nachahmung dagegen „beeinträchtigt die Erinnerung.“[4]  Voraussetzung des Erinnerns ist das Vergessenkönnen. Im Akt der Erinnerung ist das Subjekt ganz bei sich: Es kann nur erinnern, was es einmal gewusst und dann vergessen hat.  

Die damit verbundene Trennung von Wissenschaft und Kunst korrespondiert mit der Aufspaltung der „Memoria“ in Gedächtnis und Erinnerung. Der immateriellen Energie des bewussten Ich steht das Gedächtnis gegenüber, das in Verbindung gebracht wird mit Raumbildern wie der von Dir gewählte Begriff „Gedächtnisspeicher“ für Deine Wunderkammer, man kann auch von Depot, Archiv, Bibliothek sprechen.

Die aktive, kreative Erinnerungsarbeit dagegen wird mit der psychoanalytischen Anamnese verglichen, in der das bewusste Ich sich auf das Abenteuer des Auffindens und Hervorholens einlässt, um die in den verborgenen Schichten des Unbewussten präsenten Inhalte in das Bewusstsein zurückzuholen.

Es ist also der kreative Impuls der Erinnerungsarbeit, der das passive Gedächtnis als  Fundus von Informationen aktiviert.  

So kann man sagen, dass Dein Buch „als die Soldaten Schäfer waren“ wie ein Gedächtnisspeicher funktioniert. Schon auf der ersten Doppelseite sind wie in einer Wunderkammer Raritäten von weit entfernten Orten und weit zurückliegenden Kinder- und Jugendtagen versammelt: eine vom Vater aus Finnland mit gebrachte Pelzmütze, eine Bluse, ein Kindheitsfoto, das Tagebuch etc.

Auch die Bricolagen in den Plexiglaskästchen von 2012 sind mit ihrer vergleichenden Mischung aus frühen Radierungen, den Zeichnungen deiner Kinder und deinen Arbeiten heute, Deine Gedächtnisspeicher, bestückt mit Materialien aus unterschiedlichen Quellen, darunter Fotografien, Bildausschnitte aus Büchern und Magazinen, die Dir Motive und Bildideen liefern. 

In deinem künstlerischen Werk, den Gemälden, aber vor allem in der Reihe der 2013 entstandenen „Kindheitsbilder“, wird dagegen die Erinnerungsarbeit sichtbar, mit der Du, gestützt auf die in Deinen Tagebüchern als emotionale Erfahrungen geschilderten Kriegs- und Nachkriegserlebnisse, die im Unbewussten gespeicherten Bilder emporsteigen lässt und zu immer neuen Bildfindungen zusammenfügst, wieder übermalst und neu entstehen lässt.

Für diese Serie hast Du Fermacellplatten verwendet, mit denen man normalerweise Wände baut. Sie sind sehr hart und schwer und setzen Deiner Spachtel, dem Pinsel, und Stift  im Gegensatz zu einer Leinwand, die nachgibt, Widerstand entgegen. Auf diesen Platten arbeitest du in Schichten. Wie bei einem Palimpsest werden Erinnerungsschichten freigelegt, aber auch überlagert von anderen Erinnerungen. Du beschreibst das sehr anschaulich: „Die erste Ebene ist das Spachteln und Schleifen, die zweite Ebene ist die Zeichnung und die dritte Ebene, mit dem Tuschen das Ganze weiter farbig zu gestalten. Dazwischen kommt immer wieder die Spachteltechnik zum Zuge. Ich habe manches wieder weggedrückt durch ein lasierendes Spachteln, dann hab ich wieder darauf gemalt, dadurch ergeben sich keine wirklichen Schwarztöne, sondern sie sind alle immer leicht vergraut. Mir ist dann aufgefallen, erst als ich mitten in der Arbeit war, dass dieser Prozess im Grunde genau dem Erinnerungsprozess entspricht. Bei der Erinnerung suchst du - manchmal denkst du schon, das Gedächtnis ist vor die Hunde gegangen, und plötzlich entsteht ein Bild. Und dieses Bild bringt andere Bilder hervor, das erste Bild verschwindet wieder, es taucht manchmal wieder auf oder die assoziativen Bilder werden plötzlich ganz stark und verdrängen das vorhergegangene. Dieser Prozess findet auch auf verschiedenen Ebenen statt. Mit Ebenen arbeitet man auch im Photoshop, je mehr Ebenen, je vielschichtiger das Bild. In der Malerei erzeugen viele Schichten ein dichtes Gewebe von Strukturen, unvorhergesehene Farbmischungen und eine opake Tiefe.“

Die Abfolge der Bilder durchbrechen wie die „Takes“, die Einstellungen in der Filmarbeit, die klassischen Regeln der Kontinuität. Die Erinnerungsmomente werden als Sprünge wahrgenommen. Du notierst: „Alte Familienfotos, Zeitungsausschnitte, aktuelle Kriegsberichte aus den Medien, Informationen aus dem Internet und eigene Urbilder lösen sich aus dem historischen Zusammenhang und erfahren beim Malen ein neues bildliches Dasein – oft bleibt nur eine Erinnerungsspur als Auslöser. So haben die Bilder nicht nur eine persönliche, sondern bekommen auch eine kollektive Bedeutung. Erinnerung, Fiktion, Reales und Kollektives vermischen sich. Den Bildern werden Texte zugeordnet: kleine Geschichten, angedeutete Informationen. So wie ein Schauspieler sich eines Subtextes als Technik bedient, um den künstlerisch überformten Text mit Leben und Ausdruck zu füllen, so bilden die den Bildern zugeordneten Texte eine Art implizite Bedeutung einer Mitteilung.“ Vergangenheit und Gegenwart kreuzen sich in einer Zeitschleife.

Dialog mit sich selbst

Das Titelblatt des Buchs zeigt eine Eisenbahn als Metapher für die Flucht und die vielen Umzüge und Reisen im Laufe Deiner Kindheit mit all den Einsamkeitsgefühlen, die ja dann auch wiederum die Chance waren, zu sich selbst zu kommen. Wenn man einsam ist, sucht man einen Dialogpartner und der warst du selbst. So bist Du schreibend, zeichnend und malend schon früh mit dir in einen Dialog eingetreten.   

Die bildende Kunst ist ein einzigartiges Medium, um die unterbrochene Verbindung zum inneren Selbst wiederherzustellen und mit erlittenen Traumata (Die Wunde, hier übertragen auf die seelische Verwundung) in einen kreativen Dialog zu kommen, indem es im Kunstwerk objektiviert wird.

Mit jedem Bild bietet der Künstler dem dazu geneigten Betrachter einen Dialog an. Der 2013 verstorbene Psychotherapeut und Psychoanalytiker Gottfried Fischer schreibt: „Mit dem Publikum als einem 'äußeren Anderen', der den sprachlosen Schrecken des Trauma wissen und bezeugen kann", versucht der Künstler unbewusst, "den eigenen inneren Dialog mit seinem 'inneren Anderen' wieder aufzunehmen, der einst durch seine individuelle traumatische Erfahrung oder die traumatische Erfahrung derjenigen sozialen Gruppe oder Kultur, welcher der Künstler zugehört, unterbrochen wurde. Dieses wohlwollende Arbeitsbündnis mit dem Rezipienten ist - genau wie in der Psychotherapie - der beste Weg, das Trauma effektiv zu überwinden und die traumatische Erfahrung im dreifachen Sinne des Wortes 'aufzuheben'."[5]

Uns ist der Glaube an einen Sinn der Geschichte, an Klassenkämpfe, Läuterung und Sieg inzwischen vollkommen abhanden gekommen. Es bleibt nur der Versuch, den Schmerz, den die Erinnerungen an vergangene Kriege auslösen, durch Verarbeitung im Sinne von Vergegenständlichen der persönlichen Kriegstraumata zu mildern. Vergessen und Erinnern gehören dabei eng zusammen.

Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR lassen sich nach dem Krieg die aufeinanderfolgenden Phasen des totalen Verdrängens und forcierten Erinnerns als kollektives Phänomen beobachten.

Vater kehrt heim - Der Schäfer

Mit einem entscheidenden Erlebnis beginnt Franek ihre erste Rückblende, Take 1:

Am 20. Oktober 1955 kehrte der Vater heim. Er kam nach 12 Jahren aus Russland zurück in die Bundesrepublik Deutschland. „Du hattest kaum eine Erinnerung an ihn, war er doch immer nur kurz auf Fronturlaub zu Hause gewesen, da warst Du 1 Jahr, 2 Jahre, 3 Jahre alt. Du wusstest, er befand sich seit vielen Jahren in russischer Gefangenschaft.“

Das Titelmotiv legt nahe, dass der eigentliche Adressat dieses Buches dein Vater ist, der ja eine Leerstelle bildete in der Familie. Du hattest Dich um ihn ganz besonders bemüht, weil Du ein schlechtes Gewissen hattest ihm gegenüber. Er war als Spätheimkehrer ein Fremder für Dich geworden. Den vergeblichen Versuch, ein Gespräch mit dem Vater zu führen, holst Du jetzt in diesen Bildern nach. Er ist dieser Schäfer auf der Titelseite, der dieses wunderbare Kinderlied ins Gedächtnis ruft:

„Schlaf, Kindlein, schlaf, dein Vater hüt‘t die Schaf, die Mutter schüttelt‘s Bäumelein, da fällt herab ein Träumelein, schlaf, Kindlein, schlaf.“

Unter der erwähnten Eisenbahn als Metapher der Flucht sitzt Du auf einer Schaukel über einer weißen Fläche mit dem Rückenbild eines Schäfers und seiner Herde.

Du stellst Dir den Vater als Schäfer vor, eine schützende Gestalt. Am Ende konntest du doch in ihm eine Art Schutzpatron sehen, den „guten Hirten“ der frühchristlichen Ikonographie, auch wenn er diese Rolle im realen Leben nicht ausfüllen konnte. Die Gestalt des Schäfers spielt für dich auch eine große Rolle in Deinem Refugium an der Elbe in Radegast. Da gab es ja wirklich einen Schäfer, der viele Geschichten hier aus der Gegend erzählen konnte, vor allem Kriegsgeschichten.

Vom unbekannten und unsichtbaren Vater erzählen die Märchen und die Kinderlieder. Ein Wiegenlied, wahrscheinlich aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges 1756-1763 findet sich im ersten Band der Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ (1806/1808 von Achim von Arnim und Clemens Brentano zusammengestellt): „Maykäfer, flieg!/Der Vater ist im Krieg./Die Mutter ist im Pommerland./Und Pommerland ist abgebranndt.

Rotkäppchen und der Vater

Auf vielen Deiner Gemälde, wie „Deluge-Radegast (Rotkäppchen)“ von 2013, also im gleichen Jahr wie die Kindheitsbilder gemalt, erscheint das Rotkäppchen hilflos  aber lächelnd auf einer Flutwelle liegend, streng beobachtet von einem Wolf in Uniform mit Schulterklappen. Das naive, neugierige Mädchen geht von der Mutter geschickt zur Großmutter, es wird vom Wolf hintergangen, der die Großmutter frisst und in ihrer Gestalt auch das Rotkäppchen. Vom Jäger werden beide aus dem Bauch des Wolfs befreit (Hebamme, Geburtshilfe), der sie mit Steinen ersetzt, an denen der Wolf stirbt.

Der Vater als männliches Prinzip spaltet sich auf in einen aggressiven Wolf und einen das Opfer rettenden Jäger. Als Wolf in Uniform ist er in den Krieg gezogen, als Jäger/Schäfer sollte er in Deiner Imagination seine Herde/Familie schützen.

Auch wenn die Mutter die wichtigste Bezugsperson war, die Dir in einer chaotischen Zeit Geborgenheit und Schutz gegeben hat, so verkörperte der abwesende Vater doch ein Geheimnis, das ihn auch anziehend gemacht hat, weil die Frage, wie der Vater mit seinen Verwundungen und seelischen Traumata umgegangen ist, für immer offen bleiben wird.

Aus Briefen, Tagebüchern, Berichten, Erzählungen und Romanen, in erster Linie aus Fallgeschichten von Patienten nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, kann man erahnen, welche seelischen Folgelasten die Kriegs- und Nachkriegsgeneration tragen musste und welche Auswirkungen das auf die Mentalität und das seelische Klima der beiden Nachkriegsstaaten hatte.

Die chronische Traumatisierung durch den Krieg, die der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer, abgeleitet vom medizinischen Begriff, als „psychische Zentralisation“[6] bezeichnet, bewirkt seelische Verhärtungen, die das Individuum davor schützen sollen, erneut von schmerzhaften Erlebnissen überrollt zu werden. Die psychische Zentralisation reagiert auf Zustände lang anhaltender Überforderung des normalen Reizschutzes. „Die Phantasie- und Gefühlstätigkeit wird eingeschränkt auf das lebensnotwendige Minimum.“ Die Kriegsheimkehrer waren „trotz ausgeprägter psychischer Ausfallerscheinungen sehr leistungsfähig und oft beruflich erfolgreich“, wie man am Wirtschaftswunder der 1950er sehen kann, „aber in ihrem Privatleben und in ihren emotionalen Beziehungen massiv gestört.“ Zugleich wird die psychische Traumatisierung als Diskrepanz zwischen lebensbedrohlichen Situationen und individueller Ohnmacht bzw. Gefühlen von Ausgeliefertsein empfunden. Die Verbindung zum inneren Selbst, auf der das Grundvertrauen beruht, mit lebensgefährdenden Zuständen umgehen zu können, wird auf einmal unterbrochen. Neurologen sprechen von „posttraumatischen Belastungsstörungen“ („posttraumatic stress disorder“, PTSD), die als plötzlich auftretende Erinnerungsschübe die betroffene Person überschwemmen und ihr den Schlaf rauben.[7] Inzwischen erleben wir das wieder bei Bundeswehrsoldaten, die aus ihrem Einsatz in Afghanistan zurück kehren.

Millionen Töchter Deiner Generation sind ohne Väter aufgewachsen. Manche wollten nichts über sie wissen. Wibke Bruhns, Jahrgang 1938, (sie moderierte 1971/72 als erste Frau die Spätausgabe der Nachrichtensendung „Heute“) schrieb über ihren 1944 hingerichteten Vater, einem hohen Offizier der Wehrmacht, ein Buch, in dem sie bezeichnenderweise davon berichtet, dass sie die Rotkäppchen-Kleider, die nach Kriegsende aus den Hakenkreuzfahnen genäht wurden, hasste.[8]

Das ist nachvollziehbar, denn das Rotkäppchen als eines der ältesten Märchen in Europa steht für die Gewalt an Kindern, erinnert an ihre Bedrohung, vor allem in Kriegszeiten. So wie der schwarze Männerschuh, den Niki de Saint Phalle in ihre Kinderwelt mit Spielzeug platziert (Bed (Composition) , 30.6. - 12.7. 1961, colour, mixed media on wood, 120 x 120 x 30 cm, Collection Fonds national d’art contemporain. En depot au Musée d’art moderne et d’art contemporain de Nice, France.) Das mit Goldbronze gestrichene Bettgestell (Rückenteil) ist ein Symbol für den Übergriff des Erwachsenen in das Arkanum der Kindheit. Deine Kindheitsbilder sind keine Märchenbilder. Auf den zweiten Blick zeigt sich zwischen den wunderbaren Seifenblasen immer auch die Drohne.

Das ist überhaupt das Eindrucksvollste an diesem Buch, an diesen Bildern, dass du genau dieses Kippmoment zum Ausdruck bringst: Wir wollen alle an eine heile Welt glauben, wir wollen uns in diese Welt begeben ohne Misstrauen, ohne Angst und wir sind uns dennoch ständig bewusst wie illusionär unser Idealismus ist, denn wir glauben, „dass wir alle die Austreibung aus dem Paradies schon einmal erlebt haben – als unsere Kindheit zu Ende ging“.[9]Diese Ahnung davon wird in deinen Bildern sichtbar. Denn in unseren Erinnerungen war die Kindheit ein Stück Paradies, auch wenn diese sich mitten im Krieg ereignete.  

Die auf kostbaren, handgemalten Tapeten, die Du aus den Vereinigten Staaten von Amerika geschenkt bekommen hast, gemalten Bilder wie „Botanischer Garten“ (2009), oder „Kinderspiele paradiesisch“ aus den Jahren 2009, 2010, in denen in und zwischen der floralen Üppigkeit Kindersoldaten mit Waffen erscheinen, erinnern an Hermann Hesses desillusionierende Aussage: Die Welt war nie ein Paradies, sie ist nicht früher gut gewesen und jetzt Hölle geworden, sondern sie ist immer und jederzeit unvollkommen und dreckig und bedarf, um ertragen und wertvoll zu werden, der Liebe und des Glaubens.“ Diesen Satz hast Du, als Du 14 Jahre alt warst, von Hand in Dein Tagebuch geschrieben.

Mit Friedrich Nietzsche kann Liebe und Glaube um die Kunst ergänzt werden: Für Nietzsche ist die „Umformung der Welt“ durch die Kunst, „um es in ihr aushalten zu können“, das treibende Moment.[10] „Die Künstler allein [...] enthüllen das Geheimnis [...] dass jeder Mensch ein einmaliges Wunder ist, [...] er selbst, er allein ist, noch mehr, dass er in dieser strengen Consequenz seiner Einzigkeit schön und betrachtenswerth ist, neu und unglaublich wie jedes Werk der Natur."[11]

„Die Kunst [...] ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.“[12] Aufgabe der Künstler ist es, dem Menschen ein neues Bild von ihm selbst vor Augen zu stellen, das ihm das Gefühl von seiner Würde wiedergibt. "Werde, der du bist!"

Es geht darum, diesen Kern, der in jedem Menschen drin steckt, zu entfalten. Das Kind in uns zu bewahren, zu schützen und zu entfalten.  

Epilog

Franek: „Jetzt, wo ich meine Geschichte in Wort und Bild notiert habe, findet eine Art Versöhnung mit dem Vater statt... Auch die Schuldgefühle, die man immer mit sich herumgeschleppt hat, haben sich gelöst. Beim Schreiben habe ich bewusst die zweite Person gewählt, also nicht in Ich-Form geschrieben. Dadurch ist ein Dialog mit mir entstanden. Durch die Auseinandersetzung mit der Vaterfigur habe ich mich selbst genauer kennen gelernt, ich bin auch mir näher gekommen.“

  

[1] Bastelei, Heimwerkerei, die Technik, Gegenstände in einen neuen Kontext zu stellen, der nicht den ursprünglichen Normativen entspricht – Kleidung, Symbole und Embleme künstlich zusammenzustellen. Dabei kann deren ursprüngliche Bedeutung verändert oder sogar aufgehoben werden. Der Begriff geht auf den Ethnologen Claude Lévi-Strauss zurück, der 1962 sein Konzept des „Wilden Denkens“ („nehmen und verknüpfen, was da ist“) vorstellte und diesen Begriff so in die Sozialwissenschaften einführte. Für ihn ist Bricolage die nicht vordefinierte Reorganisation von unmittelbar zur Verfügung stehenden Zeichen bzw. Ereignissen zu neuen Strukturen.

[2]  Hesiod, Theogonie, 32, Bremen 1964, S. 5.

[3]  Siegfried J. Schmidt, Gedächtnis - Erzählen - Identität, in: A. Assmann/D. Harth (Hg.), Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Ffm. 1991, S. 391.

[4]  Der Salon von 1846, 7. Vom Ideal und vom Modell, in: Charles Baudelaire, Der Künstler und das moderne Leben, Leipzig 1990, S. 60.

[5] Gottfried Fischer, Psychotraumatologie, wie Anm. 22, S. 20. Vgl. Dori Laub/Daniel Podell, Art and Trauma, International Journal of Psycho-Analysis, Nr. 76, 1995.

[6] Der Begriff Zentralisation wird in der Unfallmedizin verwendet und bezeichnet die vom vegetativen Nervensystem eingeleitete Reduktion des Kreislaufes auf die überlebenswichtigen Organe Gehirn, Herz und Lunge. Das kann, je nachdem wie lange dieser Zustand anhält, zu Dauerschäden der betroffenen Organe führen.“ (Wolfgang Schmidbauer, 'Ich wußte nie, was mit Vater ist'. Das Trauma des Krieges, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 49ff.)

[7] Vgl. Gottfried Fischer, Psychotraumatologie, Kunst und Geschichte. Trauma in der europäischen Geschichte und die Geschichte der Psychotraumatologie. In: Ausst.-Kat. Unvollendete Vergangenheit. Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges in der Bildenden Kunst in Deutschland und den Niederlanden, hrsg. von der Stiftung Kunst und Gesellschaft, Amsterdam, Peggy J. Alderse Baas-Budwilowitz, Willem J.H. Alderse Baas, Amsterdam 2000, S. 12-22.

[8] Wibke Bruhns, „Meines Vaters Land. Geschichte einer deutschen Familie“, München 2004, S. 19.

[9] Rüdiger Safranski, Das Böse oder Das Drama der Freiheit, München 1997, S. 25.

[10] KSA 11, S. 32.f. Im Sinne der spekulativen Physik der Romantik wird die Natur von Wissenschaftlern wie dem Biochemiker und Zellbiologen Rupert Sheldrake wieder als etwas Sich-selbst-Organisierendes gesehen, gesteuert allerdings nicht von einer Weltseele, sondern von einem universalen Gravitationsfeld. Unbestimmtheit, Spontaneität und Kreativität sind die neuen gemeinsamen Stichworte. Vgl. Rupert Sheldrake, Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur, München, Zürich 1993. 

[11] Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen III), KSA 1, S. 337f.

[12] KSA 13, S. 521 (17[3]).

Hochwasser 2 (Rotkäppchen)
 Deluge- Radegast VIII Rotkäppchen