Wolfgang Zemter Notationen zu einem nie endenden Thema
In: Bergeversetzen (Movingmountains). Heidelberger Kunstverein 2002
FRANEK arbeitet überwiegend in formalen oder thematischen Werkkomplexen. Eine Reihe von Leinwänden in unterschiedlichen Formaten aus den Jahren 1998 bis 2000 hat sie „eslebedieliebe“ betitelt und mit Nummern versehen. Die Künstlerin beruft sich bei der Namensgebung ausdrücklich auf ein Gemälde des Surrealisten Max Ernst. Dieser hatte ein Bild (1) aus dem Jahr 1923 mit dem Doppeltitel „Es lebe die Liebe oder Pays charmant“ benannt. Das großformatige Gemälde ist der dadaistischen Zeit des Künstlers zuzuordnen. Der Verweis auf ein Kunstwerk, dessen Entstehung ein Dreivierteljahrhundert zurückliegt, war der Künstlerin außerordentlich wichtig (2).
Betrachten wir das monumental wirkende Gemälde von Ernst näher, so sehen wir vor einem überwältigend großen Himmel ein Paar in Untersicht, das - in einer aufgeschnittenen, wie eine metallene Gußform wirkenden, Umhüllung - zentral in einer unbekannt anmutenden Landschaft zu orten ist, die annähernd nur ein Sechstel der gesamten Bildhöhe ausmacht. Die Landschaft wirkt fremdartig - vor allem wegen der seltsamen Gebilde, die uns an aus Erdhaufen ragende Erdwürmer oder an ihre abgestorbenen Umhüllungen erinnern lässt. Der tiefgezogene Horizont gestattet links und rechts am Bildrand die Interpretation von Wasserflächen, aus denen ganze Kolonien dieser seltsamen Gebilde zu wachsen scheinen. Das Paar ist isoliert, wie auf einer Insel dargestellt, zusätzlich separiert in seinem zum Betrachter hin aufgeschnittenen, schützenden Kokon. Man wird an eine Fruchthülle erinnert, die ihren Inhalt einem Betrachter preisgibt, der die Rolle eines Voyeurs einnimmt, denn das Paar ist sehr intim einander verbunden: Es ist nackt bis auf eine kokette, rote Schleife am Bein der Frau und ein schwarzes, vorne verknotetes Band, das die Rolle eines Feigenblattes beim Mann einnimmt. Sie ist fleischfarbig abgebildet, sein Teint ist blau. Die Frau umarmt den Mann und umklammert eines seiner Beine mit den ihrigen, sein rechter Arm und sein Hinterkopf kommen aus eigenen Öffnungen des Kokons und vollführen dabei eine Drehung; dass sie anatomisch korrekt zum inneliegenden Körper zugehörig angenommen werden können, schließt man nur, wenn man das Zeitmoment einer Drehung nachvollzieht.
Die surreal anmutende Szene, die wegen des silhouettenhaften, kompakten Erscheinens der ummantelten Doppelfigur formal stark an die Collagen von Max Ernst erinnert, kann unterschiedlich interpretiert werden. Sicher mag man das Bild als konsequente Antwort eines Künstlers auf den 1. Weltkrieg, auf Destruktion und Isolation des Menschen ansehen dürfen. Auch die psychoanalytischen Bezüge als zeitnah aufgegriffene, aktuell umgesetzte Einflüsse sind evident. Das Bild muß unbedingt aber auch im Zusammenhang einer ganzen Reihe von Werken gesehen werden, in denen der Künstler die Paarbeziehung und die Geschlechtlichkeit generell thematisiert hat.
Zur Entstehungszeit wird das Bild ungeheuer provokant gewirkt haben (3). Die Nähe der nackten Körper, die Laszivität der Strapsschleife, der Hintergrund der Nachwirkungen der wilhelminischen oder gar viktorianischen Prüderie können heute nur erahnt werden. (Die Kunst hat gerade in den letzten Jahrzehnten eine nie gekannte Freiheit in der Wahl und der Darstellung von Sujets gefunden, die die Grenzen zum Pornografischen längst überschritten haben.) Die stark libidinöse Provokanz, die das Bild einmal ausgeübt hat, ist heute nur noch zu erahnen. Dennoch stellt die Künstlerin bewusst ein Bezugssystem zu diesem Gemälde auf.
Schon vor annähernd einem Vierteljahrhundert hat der Verfasser rein zufällig (4) ausgeblasene, von der Künstlerin mit hocherotischen Szenen bemalte Eier gesehen. Diese privat gedachten Ostergeschenke, hoch artistisch und äußerst qualitätvoll in der Zeichnung, ließen kaum etwas aus, was zwischenmenschlich möglich ist. Als Zeichen äußerster Vertrautheit sind und waren sie Ausdruck größter Privatheit, von Intimität schlechthin. Ähnlich weit ist die Künstlerin nie wieder gegangen. Zwar existiert eine Mappe (5) – in kleiner Auflage (6) –, die erotische Darstellungen exponiert, aber ansonsten ist diese Thematik in ihren Arbeiten zwar häufig latent angesprochen, selten aber wird sie vordergründig als rein sexuelle Formulierung erkennbar (7).
Das schließt nicht aus, dass FRANEK hocherotische Themen bearbeitet: Bilder wie „Sarottimohr“ (8), im Jahr 2000 entstanden, oder „ABRAKADABRA“ (9) aus dem selben Jahr sind hocherotisch, aber beschränken sich nicht auf die Darstellung primärer Geschlechtsorgane oder eines Aktes ‘a tergo’, sondern sind in narrative Strukturen eingebunden, deren Erzählstruktur überwiegt. Die Geschichte im Kopf spielt im Umkreis der Folge „eslebedieliebe“ eine primäre Rolle. Wenn Sabine FRANEK ein Kinderpärchen in der Natur ein Sonnenbad nehmen läßt, Hand in Hand, das eine Kind frontal uns zugekehrt, das andere mit dem Rücken zugewandt, so ist Phantasie gefordert (10). Das gleiche gilt für so vorpubertäre Bildthemen wie dem, ostentativ dargestellten, Mädchen auf der Schaukel (11).
Dass das latente, erzählerische Moment äußerst weit gehen kann, beweist das Bild „Sarottimohr“. Das Emblem der Schokoladenmarke, das heute nicht ohne Reflektion des rassistischen Beigeschmacks interpretiert werden kann, verweist durchaus auf die unterschiedliche Farbigkeit der am Bildgeschehen beteiligten Akteure, spielt mit der Irritation.
Das Hauptwerk des hier thematisierten Bildzyklus „eslebedieliebe“ ist die Nr. IV (12). Dem Betrachter ist dabei sofort ersichtlich, dass für Sabine FRANEK der Bezug zum Vorbild weder dessen dadaistische noch die surreale Komponente sein kann. Der Künstlerin ist sicherlich primär an der äußeren Erscheinung der beiden verschlungenen Liebenden gelegen, denn sonst hätte sie die beiden nicht, formverwandt, ebenfalls in das Zentrum des großformatigen Bildes hinein positioniert (in der Fassung I (13) und V (14) sogar noch stärker an das Vorbild angelehnt). Nähern wir uns dem Bild genauer, so stellen wir darüber hinaus fest, dass drei Amoretten, zum Teil mit Pfeilen oder Bogen, die Liebenden in ihr Visier genommen haben. Neben dem Bezug zu den dem zwei Generationen davor liegenden Bild von Ernst und dem jahrhundertealten, kunsthistorischen Verweis darf durchaus auch an die durch die Lüfte fliegenden Paare von Chagall erinnert werden. Dennoch ist hier einiges - und zwar entschieden - anders:
FRANEK hat ihren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt überwiegend in Berlin. Diese Stadt ist - einerseits wegen ihrer politischen Inselsituation -, aber auch wegen der in die 20er Jahre zurückgehenden Tradition (später wegen Hofer, maßgeblich und tonangebend im Bilderstreit um die Vorherrschaft von abstrakter oder gegenständlicher Kunst) nie aus der Hegemonie des Gegenständlichen losgekommen. Die ‘kritischen Realisten’ sind vorwiegend ein Berliner Phänomen. Während im Rest der Republik von Informel bis Zero und den folgenden Strömungen stets weltoffen experimentiert wurde, ist das Beharrungsvermögen der Berliner Szene im gegenständlichen Bezugssystem eklatant - häufig auf das Niveau der (politischen) Illustration abgeglitten. Die wenigen gegenstandslos malenden Professoren (Thieler, Stöhrer, Gonschior) bildeten eine Minderheit - kaum vom lokalen Markt wahrgenommen. Ihr Erfolg kam von außen. Auf diesem Hintergrund ist Sabine FRANEK`s Werk eindeutig einzuordnen: ihrem Lehrer Thieler sehr nahestehend und von ihm geprägt, kann sie ihren eigenen Standort nur in einem - bewußt gewählten - kontradiktorischen Bezug finden. Fred Thieler schloß bei seinen gestischen Bildern jeglichen figurativen Aspekt grundsätzlich aus. Bei den weitgehend gesteuerten Verlaufprozessen seiner Bilder konnten Zufallsformen nie ausgeschlossen werden. Es galt aber stets zu verhindern, darin Köpfe, Figuren, kurz alles als gegenständlich Erinnerbares vorzufinden. Diesen Teilaspekt des Surrealismus galt es in seiner Methodik zu eliminieren. Somit war der Malprozeß, die Methode, Selbstzweck, künstlerisches Programm. Bildform und Bildprozeß bilden eine Einheit. Nicht so bei FRANEK.
Die Künstlerin verwendet bewußt formal reduzierte Bildzeichen (16), deren Gegenstandserfahrung häufig erst im Zusammenspiel mit dem Bildgrund möglich ist. Wegen der offenen Struktur, der großen Freiräume, die für die individuelle Interpretation möglich bleiben, schafft es FRANEK (vom archaischen Zeichen, dem antiken Mythos, bis hin zum modernen Märchen) neue Bezugsystem zu eröffnen. Das gilt auch, ohne alle Peinlichkeit, für das uralte Thema von Sex und Liebe.
(1) Öl/Leinwand, 131,5 x 98 cm, WVZ Spies/Metken 616, The Saint Louis Art Museum, Hinterlassenschaft Morton D. May
(2) Im Vorfeld dieses Artikels schickte mir Sabine FRANEK neben Abbildungen ihrer eigenen Arbeiten eine Postkarte des Gemäldes von Max Ernst – ausdrücklich um darauf Bezug zu nehmen.
(3) Das viel harmlosere Bild „La belle Jardinière“ aus dem gleichen Jahr kann Ernst nicht an eine private Sammlung verkaufen: vgl.: „Max Ernst, Ausstellungskatalog, London, Stuttgart, Düsseldorf, Paris, 1991/2, S. 299 – Ernst geht im selben Jahr bis zur direkten Darstellung (unverschlüsselt) des Kopulationsaktes im Bild „die menschen werden nichts davon wissen“, WVZ Spies/Metken 653, London, Tate Gallery
(4) Wenn man privat bei Freunden nächtigen darf, kann auch dem diskretesten Auge Indiskretes in den Blickwinkel geraten; heute weiß ich, dass die österlichen Freundschaftsgaben von beiden Beteiligten ausgetauscht wurden: nonverbale Liebeskorrespondenz!
(5) FRANEK „eslebedieliebe“, Mappe mit 9 Radierungen (vernis mou), 1999, handeingefärbtes Japanpapier auf Kupferdruckbüttenkarton
(6) Bibliophile 9 Exemplare!
(7) Hier ist ein tendenziell geringer Unterschied zwischen den grafischen - linearen - und malerischen Arbeiten der Künstlerin zu sehen, da die Indetermination des informellen Bildgrundes fehlt.
(8) Abb.:
(9) Abb.:
(10) „Liegewiese I“, 1999, Abb.: , je fotografisch exakter (realistischer) ein Bild ist, umso weniger Vorstellungskraft ist gefordert (und möglich). Die Geschichte des Striptease - als historischer Disziplin - war vornehmlich von der Andeutung (des mehr Verbergens denn Enthüllens) bestimmt.
(11) Hier kann man - ikonografisch - Aspekte des geschichtlich Pornografischen sehen: Die Damen auf Schaukeln, beliebte Abbildungen des „galanten Zeitalters“, gab es für ‘Liebhaber’ oft in einer zweiten Fassung, welche einen voyeuristischen Einblick unter den Rock ermöglichte.
(12) Abb.:
(13) Abb.:
(14) Abb.:
(15) Das ‘Lehrer/Schüler’-Verhältnis ist als grundsätzliches Problem meines Erachtens noch nicht hinreichend behandelt. Die eindeutig konträre Stellung, die etwa Beuys in seinem Œuvre, bezogen auf das Werk seines Lehrers Mataré, einnimmt, gilt für sehr viele andere - europäische - Künstler auch. Der westliche Fortschrittsaspekt, der zusammen mit dem Avantgardegedanken die neuere Kunstentwicklung maßgeblich prägte, beruht auf diesem antithetischen Ansatz - im völligen Gegensatz zu klassisch asiatischen Denkmodellen!
(16) Thomas Hirsch spricht in diesem Zusammenhang von der „Verwendung eines primären, archaischen Formenvokabulars“. FRANEK, Kat. Muralpaintaing